Team der Uni Bochum: Entwicklung von Handlungsempfehlungen, um informellen Zwang zu reduzieren
In einer Presseinformation teilt die Ruhr Universität Bochum (RUB) am 06.12.2023 mit, dass psychiatrisches Personal unbewusst Zwang ausübt, wenn sie Patienten damit drohen: „Wenn Du deine Medikamente nicht nimmst, darf deine Familie nicht kommen“. Ein solcher Satz lasse einem Patienten keine Wahl. Manche Zwangsmaßnahmen – wie eine Unterbringung oder Zwangsmedikation seien allerdings in der Psychiatrie gesetzlich geregelt.
Im Alltag werde jedoch häufig auch über kommunikative Mittel Druck auf Patient*innen ausgeübt, um sie zu einer Behandlung oder Medikamenteneinnahme zu bewegen. Wenn eine Psychiaterin einem Patienten drohe, dass die Familie nicht kommen darf, wenn er seine Medikamente nicht nimmt, sei als Zwang zu verstehen. Wann solche kommunikativen Mittel die Grenze zum informellen Zwang überschreiten, hat nun ein Team um Christin Hempeler von der Ruhr-Universität Bochum untersucht und dafür den Preis der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) erhalten. Die Forschung habe im Rahmen der von Dr. Jakov Gather geleiteten Forschungsgruppe „SALUS“ stattgefunden, berichtet die Uni Bochum weiter. Der DGPPN-Preis für Philosophie und Ethik in Psychiatrie und Psychotherapie wurde am 1. Dezember 2023 verliehen. Die mit 6.000 Euro dotierte Auszeichnung wurde für zwei prämierten Projekte an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt.
Das Konzept: Interviews mit Betroffenen
Während rechtlich geregelter, formeller Zwang in der Psychiatrie bereits viel erforscht wurde, gibt es nur wenige Arbeiten zu informellem Zwang. Das Bochumer Team hat sich deshalb dieses Themas angenommen, weil dies in der klinischen Praxis eine große Rolle spielt. Auch wenn psychiatrische Fachkräfte im Interesse der Patient*innen handeln möchten, kann es passieren, dass sie in der Kommunikation bewusst oder unbewusst Druck erzeugen, der einem Zwang gleichkommt.
Für eine zu erstellende Studie, interviewte das Forschungsteam 14 Patientinnen und Patienten mit psychischer Erkrankung um zu erfahren, wie sie verbal ausgeübten Druck erleben. Die Studie wurde bei BMC Psychiatry veröffentlicht. In der nun von der DGPPN ausgezeichneten Arbeit, die in “The American Journal of Bioethics“ erschienen ist, habe das Team basierend auf empirischen Erkenntnissen ein philosophisches Konzept entwickelt, wie sich informeller Zwang beschreiben lässt. Fest stehe, sowohl in der eigenen als auch in weiteren empirischen Arbeiten zeige sich: Der Kontext kommunikativer Interaktionen beeinflusst, ob Zwang stattfindet. Das konnte in der bisherigen Konzeption informellen Zwangs nicht abgebildet werden. Bislang wurden nur Drohungen als Zwang erachtet, nicht jedoch andere kommunikative Mittel. Anhand von vielen Beispielen beschreibt Christin Hempler vom Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin nochmals Situationen innerhalb der Forschungsarbei. Zum Beispiel spiele bei der Beurteilung von Zwang eine Rolle: „Wenn ein Fixierbett im Raum steht, könnte der Patient berechtigterweise vermuten, dass er fixiert und zwangsmediziert wird, wenn er die Medikamente im Rahmen eines Angebots verweigert, weil er dieses Vorgehen zuvor bei anderen Patient*innen beobachtet hat“, sagt die Fachfrau.
Team erarbeitet Handlungsempfehlungen
Eine Lösung wäre laut den Forschenden beispielsweise, im Gespräch aufzuzeigen, dass es keine negativen Konsequenzen gibt, wenn ein Patient eine Maßnahme verweigert. „Man kann zum Beispiel eine Belohnung für die Medikamenteneinnahme anbieten und zugleich klarmachen, dass nichts passieren wird, wenn das Angebot nicht angenommen wird“, so auch Hempeler vom Forschungsteam. Die Arbeiten waren eingebettet in das Forschungsprojekt „SALUS“, welches das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert hatte. Es untersucht das Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung, gesundheitlichem Wohl und Sicherheit, das in der Psychiatrie häufig bestehe. In einem nächsten Schritt möchte das Team Handlungsempfehlungen für psychiatrische Fachkräfte entwickeln, die informellen Zwang reduzieren sollen. Mehr über diese Studie kann man hier aufrufen: https://news.rub.de/presseinformationen/wissenschaft/2023-12-06-preis-fuer-forschungsarbeit-wie-psychiatrisches-personal-unbewusst-zwang-ausuebt.
Info zur Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN)
Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN) ist eine wissenschaftlich medizinische Fachgesellschaft mit rund 10.000 Mitgliedern. Der Mitgliederstamm setzt sich aus Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie sowie aus Ärzten, Psychologen und Wissenschaftlern zusammen, die in Deutschland auf den Gebieten Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde arbeiten.
Die Geschichte beschreibt, dass am 14.09.1907 die erste Jahreshauptversammlung des umbenannten Vereins „Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater“ stattfand, deren Vorsitz Ernst Rüdin, München, übernahm und bis 1945 inne hatte. Laut WIKIPEDIA sei dies das dunkelste Kapitel der deutschen Psychiatrie gewesen. Ernst Rüdin sei auch maßgeblich an der Zwangssterilisation von mehr als 360.000 Menschen, vor allem psychisch Kranken, beteiligt gewesen. Zwischen 1939 und 1945 – wiederum unter maßgeblicher Beteiligung von Psychiatern – darunter Ordinarien und Anstaltsdirektoren – wurden mindestens 400.000 psychisch Kranke und Behinderte als „lebensunwertes Leben“ klassifiziert und Opfer der systematischen Krankentötungen („Euthanasie“). Wer mehr über den DGPPN erfahren möchte, kann sich auch bei WIKIPEDIA darüber informieren,https://de.wikipedia.org/wiki/Deusche_Gesellschaft_für_Psychiatrie_und_Psychotherapie,_Psychosomatik_und_Nervenheilkunde
Foto: Fixierbett (Stealth12 – Eigenes Werk WIKIPEDIA)