Die Erinnerungskultur belegt: Holodomor war durch stalinistische Politik herbeigeführte Hungersnot
Das ukrainische Wort Holodomor bedeutet „Mord durch Hunger“. Zwischen 1931 und 1933 verhungerten rund 4 Millionen Ukrainer. Der Holodomor betraf die gesamte Sowjetukraine in den Grenzen vor dem Zweiten Weltkrieg. Bauern wurden damals mit Waffengewalt von ihren Feldern vertrieben. Von sowjetischen Politkommissaren wurden die Lebensmittel beschlagnahmt. Die Menschen verhungerten auf den Straßen und Bahndämme waren mit Leichen übersät. Die Bronzestatue eines abgemagerten Kindes erinnern an das Massensterben. Etwa zeitgleich mit dem Holodomor wurden in den 1930er-Jahren ukrainische Intellektuelle, Menschen aus Kunst und Politik zu Tausenden verhaftet und meist nach kurzem Prozess erschossen.Auch der SWR hatte am 24.02.2023 darüber berichtet, https://www.swr.de/wissen/1000-antworten/holodomor-ukraine-100.html
Laut eines Berichtes der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg machen zahlreiche Forscher Stalin persönlich für den Tod von Millionen Menschen verantwortlich oder unterstellen, er habe bewusst die Bauern verhungern lassen, weil das weniger aufwendig und kostspielig gewesen sei als weitere Millionen von Menschen zu deportieren wie zur Zeit der Kollektivierung. Insoweit lässt sich sagen, dass der Holodomor weithin in der westlichen Forschung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn auch nicht durchgehend als Völkermord qualifiziert wird.
Die russische Politik wehrt sich mit Nachdruck gegen die Einordnung des Holodomor als Völkermord. Allerdings gibt es in Russland Forscher, die den Großen Hunger als Völkermord werten, dessen Opfer nicht nur die Ukrainer sondern auch die Russen waren, von denen Hunderttausende an der Wolga umkamen. In Russland wird bislang weder in der Publizistik noch in der Forschung anerkannt, dass der Holodomor in der Ukraine andere, noch weit brutalere Züge hatte als an der Wolga. Die enge Verknüpfung von Nationalitätenpolitik und Getreiderequirierungen, die Stalin persönlich hergestellt hat, wird nicht zur Kenntnis genommen. Für Stalin war der Holodomor nicht nur ein Instrument, um die Bauern zu disziplinieren, sondern auch um in der Ukraine alle Träume von Autonomie oder gar Selbständigkeit ein für alle Mal zu zerstören. Wie man heute weiß, ist dies nicht gelungen.
In den Jahren 1932/33 ereignete sich in der Sowjetunion eine der größten humanitären Katastrophen des 20.Jahrhunderts. Sechs bis sieben Millionen Menschen wurden Opfer einer Hungersnot, über die damals so gut wie nichts an die Öffentlichkeit drang. In der Sowjetunion wurde die Große Hungersnot mit einem Tabu belegt. Erst 50 Jahre später begann eine größere Öffentlichkeit – zunächst in Nordamerika und dann auch in der auseinander brechenden Sowjetunion – Details zu erfahren und Anteil zu nehmen. Inzwischen ist der Holodomor zu einem zentralen Aspekt der Erinnerungskultur in der Ukraine, nicht jedoch in Russland oder Kasachstan geworden. Die Erinnerung an die Millionen Verhungerten steht in der Ukraine im Zeichen der Distanzierung von der kommunistischen Vergangenheit, und sie dient zugleich der Konsolidierung der Nation im neuen demokratischen Staatswesen. Auch in Russland ist die Hungersnot kein Tabu mehr, aber zu einem breiten Gedächtnis an die Opfer ist es bis heute nicht gekommen.
Bei Kiew, auf den Höhenzügen über dem Fluss Dnjepr, befindet sich einer der zentralen Erinnerungsorte der heutigen Ukraine – die Holodomor-Gedenkstätte. Sie erinnert an die verheerende, von der stalinistischen Politik herbeigeführte Hungersnot in der Sowjetukraine. Das ukrainische Wort Holodomor bedeutet: „Mord durch Hunger“. Bis zur Spätzeit der Sowjetunion Ende der 1980er-Jahre durfte an den Holodomor in der Ukraine nicht erinnert werden, auch öffentliche Äußerungen darüber waren verboten. Erst seit Anfang der 1990er-Jahre wurden wissenschaftliche Archive geöffnet und damit war eine historische Forschung zum Holodomor möglich. Heute setzt sich die ukrainische Regierung dafür ein, dass der Holodomor als Genozid anerkannt wird.
Foto: Die Opfer des Hungers. Fußgänger und Leichen verhungerter Bauern auf einer Straße in Charkow, 1933 (Bild: Gareth Jones, Wikipedia, gemeinfrei)