Welche Hilfsangebote gibt es für Angehörige von Tötungsdelikten?
Die ANUAS-Talkrunde mit Marion Waade geht in die zweite Runde. Heute will uns die Vorsitzende von ANUAS Berlin, Marion Waade, alle Möglichkeiten aufzeigen, wenn Angehörige von Tötungsdelikten beim Bundesverband, der national und international tätig ist, Hilfe suchen. Immer wieder hört man, dass gerade Angehörige von Mord-Opfern oftmals alleine gelassen werden, nicht nur von Behörden, sie werden auch in unserer Gesellschaft oftmals stigmatisiert, weil sie Hilfe suchen und Fragen stellen. Statt Aufklärung, findet eine Stigmatisierung statt. Angehörige von Tötungsdelikten sind also doppelt belastet. Sie können und dürfen auch nicht richtig trauern, weil sie oftmals von der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Mit dem heutigen Interview wollen wir von Marion Waade erfahren, was sie zu diesem Thema zu sagen hat.
NR:
Guten Tag Frau Waade, wir freuen uns heute wieder mehr vom Bundesverband ANUAS und der Arbeit mit Opfern zu erfahren. Frau Waade, Sie haben uns bereits im letzten Interview berichtet, aus welchem Grund der ANUAS gegründet wurde. Heute würde mich interessieren, wie ANUAS den Angehörigen von Tötungsdelikten hilft. Gibt es konkrete Hilfsangebote?
MW:
Es gibt keine konkreten Hilfsangebote, da ja alle Fälle sehr individuell zu betrachten sind. Nicht jeder Fall ist gleich, es gibt also kein Schema von A-Z. Wenn Angehörige zu uns kommen, fragen wir nach den Wünschen und Bedürfnissen der Betroffenen. Was brauchen sie gerade, in dem Moment. Wenn jemand sagt, dass er einen Trauerkreis sucht, dann vermitteln wir an den Bundesverband VEID e.V. Der BV VEID e.V. und der BV ANUAS e.V. haben eine gegenseitige Mitgliedschaft und können so optimale Hilfen abdecken. Die wenigsten Mit-Opfer, die zu uns kommen, wollen einen Trauerkreis. Oft gibt es Wünsche nach Information und Aufklärung zum Geschehen, zur Ermittlungsarbeit, welche Rechte haben sie und welche Unterstützungsmöglichkeiten gibt es. In einem nächsten Interview berichte ich über die Möglichkeiten der Restorativen Justiz beim ANUAS und die Erfolge, die bundesweit bereits zu verzeichnen sind.
NR:
Ja, gerne! Meine heutige Frage: Erhalten denn die Hinterbliebenen in Deutschland alle Hilfen, die sie benötigen? Wie schätzen Sie das ein?
MW:
Wir sprechen bei Angehörigen gewaltsamer Tötungsdelikte nicht von „Hinterbliebenen“ im üblichen Sinne. Man kann keinen Todesfall durch Krankheit oder Alter mit einer gewaltsamen Tötung gleichsetzen. Wir sprechen beim ANUAS von „Mit-Opfern“. ANUAS hat sich 2009 an einer Verbändeanhörung der EU beteiligt, als die EU-Richtlinie zum Mindeststandard für Gewaltopfer diskutiert und erstellt wurde. Danach haben Angehörige gewaltsamer Tötung den Opferstatus, sie müssen so behandelt werden, wie das Opfer selbst, wenn es überlebt hätte.
NR:
Gibt es zu der Begriffsdefinition „Mit-Opfer“ Studien? Ich habe diesen Begriff vorher noch nie gehört, es wird immer von Hinterbliebenen gesprochen.
MW:
Dr. Dr. h.c. Michael Kilchling * Senior researcher > Max Planck Institute for the Study of Crime, Security and Law – Department of Public Law hat geforscht zur Opferrechten und zur Umsetzung der EU-Richtlinie zum Mindeststandard für Gewaltopfer: Er formuliert dazu:
„Der rechtliche Status von Angehörigen unmittelbar betroffener Opfer ist in Deutschland nach wie vor unzureichend. Dabei sind die Belastungen, denen sie ausgesetzt sind, weithin anerkannt. Das gilt insbesondere für Familienangehörige Getöteter. Der Pionier der deutschen Viktimologie Hans-Joachim Schneider hat bereits in den frühen 1990er Jahren darauf hingewiesen, dass Angehöre häufig ebenso gravierende Traumatisierungen und weitere psychologische Schädigungen davontragen wie die unmittelbar betroffenen – direkten – Opfer; mitunter leiden sie sogar stärker. Er hat sie daher zutreffend als „Mit-Opfer“ bezeichnet….„Mehr dazu ist nachzulesen auf der ersten ANUAS-Webseite „Restorative Justiz“ im 2. Klappentext: https://anuas.de/restorative-justice/
NR:
Ich habe gesehen, dass der ANUAS drei Webseiten hat. Warum ist das so? Können Sie dieses genauer erklären?!
MW:
Ja natürlich! Die drei Webseiten waren nötig, weil der ANUAS sehr viele Angebote für Mit-Opfer hat, welche in Deutschland in dieser Form nicht angeboten werden. Da es in Deutschland keine weitere Hilfsorganisation für Mit-Opfer gibt, kann ich ohne schlechtes Gewissen sagen, dass der Bundesverband ANUAS e.V. in Deutschland einmalig ist. EU weit gibt es nur zwei Betroffenen-Hilfsorganisationen von Mit-Opfern: in Irland – AdVIC und in Deutschland – ANUAS e.V. Wir sprachen ja bereits davon, dass die Hilfen für Mit-Opfer sehr individuell gesehen und angeboten werden muß. Unsere Angebote mußten strukturiert werden, damit noch eine gewisse Übersichtlichkeit erhalten bleibt. In der folgenden Grafik ist deutlich zu erkennen, welche ANUAS-Seiten es gibt und welche Hilfen über diese Webseiten angeboten werden.
NR:
Abschließend habe ich noch eine Frage: Müssen die Mit-Opfer Mitglied beim ANUAS werden, um Hilfen zu erhalten?
MW:
Nein! Die EU-Richtlinie zum Mindeststandard für Gewaltopfer schreibt vor, dass Betroffenen alle nationalen Hilfen angeboten werden müssen und die Entscheidung bei den Betroffenen bleibt, welche Hilfen sie nutzen möchten, was sie brauchen. Alle Hilfen für Betroffene müssen kostenfrei für diese sein. ANUAS geht nicht auf „Mitgliederfang“. Jeder betroffene Mensch kann sich an den ANUAS wenden und erhält kostenlose Information, Beratung und mögliche Hilfen. ANUAS bietet für Betroffene auch kostenlos alle Arbeitsmaterialien und Fachliteratur des ANUAS an. Übrigens kommt es nicht selten vor, dass Fachkräfte (Psychologen, Polizisten …) sich an den ANUAS wenden und eine institutionelle Beratung erbitten.
NR:
Vielen Dank, Frau Waade für das Interview. Ich freue mich schon auf das nächste Gespräch mit Ihnen, wenn Sie uns mehr über die Arbeit von ANUAS und Betroffenenfällen berichten werden.